Gefallenengedenktafeln in den Kirchen

"Religiöser Patriotismus" oder Trauerbewältigung für die Angehörigen

Auszug aus dem Buch (ohne Anmerkungen):

Die Gedenktafeln für gefallene Soldaten in den christlichen Kirchen sind ein besonderer Teil der Erinnerungskultur, auf die in diesem Buch hingewiesen wird. Wenn das Gedenken der im Krieg gefallenen (eigentlich: getöteten) Soldaten im Allgemeinen ein weltweites Phänomen ist, so ist das Anbringen von Gedenktafeln in evangelischen Kirchen in Deutschland ab 1813 in seiner flächendeckenden Erscheinung einzigartig. Diese Erscheinungsform des Gedenkens ist eine Mischung aus politischem und sakralem Totenkult.

Die dort aufgeführten Soldaten sind einerseits im Krieg getötete Soldaten als Krieger und andererseits Mitglieder der jeweiligen Kirchengemeinde. Einerseits wird dem im Krieg getöteten und für sein „Vaterland“ gefallenen Bürger mit dem Hinweis auf deren militärische Zugehörigkeit gedacht, wie dies auf den ehemaligen Tafeln in der Kirche in Neustadt zu sehen war.[1] Dort sind die gefallenen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg erwähnt, wie auch auf der Gedenktafel in Sandbach. Andererseits wird aus der Sicht der Kirchengemeinde um das verstorbene Gemeindemitglied getrauert, dessen Name auf der Tafel an seine Mitgliedschaft in seiner Heimatgemeinde erinnert, wenn zumindest einmal im Jahr in einem besonderen Gottesdienst dem verstorbenen Soldaten gedacht wird. Ein solches Gedenken konnte und wurde auch außerhalb des Kirchengebäudes gehalten. Dieses Gedenken hatte (und hat) die Bedeutung eines „politischen Totenkults“[2], wobei dies von unterschiedlichen Parteien und insbesondere durch die jeweiligen „Kameradenvereine“ gefördert und inszeniert wurde. Grundsätzlich gilt für den Typus „Kriegerdenkmal“, was der Historiker Reinhart Koselleck festgestellt hat: „Das Kriegerdenkmal erinnert nicht nur an die Toten, es klagt auch das verlorene Leben ein, um das Überleben sinnvoll zu machen.“[3]

In diesem Rahmen hatte das Totengedenken in der Kirche in erster Linie einen sakralen Hintergrund: Dem im Krieg getöteten Soldaten wurde mit einer Gedenktafel gedacht, wobei für das Seelenheil des im Krieg gefallenen „Bruder in Christus“ gebetet wurde. Sein Name auf der Gedenktafel war ihm in den meisten Fällen in dieser Kirche durch die Taufe zugesprochen worden. Als mit diesem Namen getaufter Christ hatte er auch in dieser Kirche den Segen zur Konfirmation empfangen. Soweit er verheiratet war, war ihm und seiner künftigen Familie der Trausegen in dieser Kirche zugesprochen worden. In jeder Hinsicht war die Heimatkirche für ihn der sakrale Ort, der ihn bis zu seinem Kriegsdienst begleitet hatte. Seine Angehörigen (Eltern, Großeltern, Geschwister, Ehefrau, Freunde) hatten diesen sakralen Sozialisationsprozess begleitet. Dementsprechend war der Verlust ein tiefer seelischer Einbruch für die Angehörigen des gefallenen „Kriegers“, der eine langjährige Trauerbewältigung in Anspruch nahm. Aus diesem Trauerbedürfnis heraus stellten Angehörige Gedenktafeln auf oder unterstützten ein solches Vorhaben.

Es ging also in erster Linie nicht darum, dass die Angehörigen in der Kirche ihrem im Krieg gefallenen „Helden“ gedachten, sondern um ein wichtiges Familienglied zu trauern. Sein Tod „fern der Heimat“ wurde mit seinem Namen auf der Gedenktafel festgehalten, da ein der Kirchengemeinde entsprechendes Begräbnisritual nicht stattfinden konnte. Sein „Leib“ konnte nicht – wie üblich – auf dem heimatlichen Friedhof („Gottesacker“) bestattet werden. Dort war kein Grab mit dem entsprechenden Grabstein (Name, Geburts- und Sterbedatum, Bibelspruch, christliche Symbole) für ihn vorhanden, an dem seine Familienangehörigen seiner hätten gedenken und trauern können. Das übliche Pflegen des Grabes mit dem entsprechenden Begleitgebet (oder stillem Gedenken) an bestimmten Tagen (Geburtstag, Totensonntag u.a.) war nicht möglich.

Die Gedenktafel in der Kirche nahm diese Rolle ein und gab den Angehörigen die Möglichkeit, ihre Trauer im Rahmen des Gottesdienstes zu verarbeiten. So konnten die Eltern, deren Sohn im Krieg gefallen war, in Anwesenheit des Namens auf der Tafel, ihr Gebet für den Verstorbenen sprechen und ihre Trauer und auch ihren Schmerz „vor Gott“ bringen. Falls der gestorbene Soldat verheiratet war, konnten die verwitwete Ehefrau und – soweit vorhanden – seine Kinder ihren Schmerz und ihre Trauer in der Nähe der Gedenktafel zum Ausdruck bringen. Für die Kinder des Verstorbenen, die ihren Vater schmerzlich vermissten, war diese Art zu trauern ein Teil ihrer christlichen Sozialisation.[4]

Die in der Kirche angebrachten Gedenktafeln mit dem Namen des Vaters waren für die Kinder ein wichtiger Teil der damaligen Trauerkultur, indem sie eine bedeutende Erinnerungsfunktion einnahm. Das gilt besonders für eine Zeit und Lebensumgebung, als andere Erinnerungsmedien, wie Fotos u.a., nicht selbstverständlich waren. Ein Name mit Geburts- und Todesdatum hatte damals einen wesentlich höheren Erinnerungswert als heute, war dieser besonders für die armen Familien oft das einzige vorhandene Erinnerungsstück an ihren verstorbenen oder sogar vermissten Angehörigen.

Die erfolgreiche Trauerbewältigung der Angehörigen war nun von dem Feingefühl und der seelsorgerlichen Begabung des zuständigen Pfarrers abhängig, der als „verlängerter Arm“ der „Herrschaft“ den sakralen Totenkult zu gestalten hatte. Eine angebrachte Balance zwischen der Trauerverordnung „von oben“ und dem seelsorgerlichen Feingefühl für seine betroffenen Gemeindemitglieder war sehr schwer zu erreichen, zumal eine theologische Debatte über den Umgang mit den gefallenen Soldaten und deren Totengedenken noch ausstand. So akzeptierte man die Anordnung von „oben“, war man doch von Amtswegen dazu gezwungen. Andererseits war man sich auch bewusst, dass dies im Rahmen einer protestantischen Totenverehrung zu verantworten war. Hierbei spielte der Zusammenhang von „Glaubensmärtyrertum“ und „Heldenverehrung“ im Sinne des politischen Totenkults eine entscheidende Rolle.

Wem galt nun der Totenkult in der Kirche? Dem für „König und Vaterland“ gefallenen „Helden“, oder dem im Krieg ermordeten Gemeindemitglied, dessen Angehörige im entsprechenden Gottesdienst zu trösten waren?

Eine geradezu beeindruckende Lösung finden wir in Sandbach, wo Pfarrer Karl Römheld Folgendes berichtet:[5]

 „Eine sinnige Art, die Toten zu ehren ist Totensonntag 1924 in Sandbach Brauch. Jedesmal an dem dem Todestag eines Helden nächstliegenden Sonntag wird seiner im Gottesdienst nach dem allgemeinen Kirchengebet und vor dem Vaterunser gedacht. Die Angehörigen des Toten werden zu diesem Gottesdienst eingeladen. Gern schmücken sie dann auch die Ehrentafel in der Kirche mit einem schönen Strauß.“

Auch wenn der Pfarrer den typischen politischen Ausdruck „Held“ und „Ehrentafel“ benutzt, so kann man dem Inhalt entnehmen, dass hier im christlichen Sinne eine Art „Sterbegedenken“ für den verstorbenen Angehörigen vollzogen wurde. Vor dem wichtigen und beliebten Gebet „Vater unser“ wurde mit Erwähnung des Namens dem gefallenen Gemeindemitglied seines „Todestages“ gedacht. Die von den Angehörigen mit Blumen geschmückte Ehrentafel wird so durch die Anwesenheit der Trauernden zu einem Grabdenkmal. Das „Gebet des Herrn“ (Vater unser) hatte die tröstende Funktion für die Angehörigen, dass ihr im Krieg gefallenes Familienmitglied im himmlischen Reich Gottes für immer seine Ruhe gefunden hat. Das Gebet leistete auch das entsprechende Versöhnungsritual zwischen den Lebenden und dem Toten, wenn gebetet wurde „und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Ob dabei auch eine Versöhnungsgeste in Richtung „Feind“ empfunden wurde, der für den Tod des Angehörigen zuständig war, ist anhand von mangelnden Betroffenenberichten nicht eindeutig zu bejahen, aber durchaus denkbar.

Bei der Einordnung der Gedenktafeln in den Kirchen in den Gesamtkomplex der „Krieger- oder Heldendenkmäler“ als Erinnerungsmerkmale darf also der sakrale Hintergrund nicht übersehen werden. Allerdings darf auch der Aspekt des politischen Missbrauchs nicht verharmlost werden.

Die hier im Buch behandelten Denkmäler haben im Laufe der Jahre zahlreiche Bezeichnungen gehabt: „Krieger- oder Heldendenkmäler“ war die ursprüngliche Bezeichnung. Heute sprechen wir nur noch von „Mahnmalen“ oder seltener von „Ehrenmalen“.

Dazwischen liegt eine lange Sprach- und Kulturgeschichte, die mit dem unermesslichen Leid besonders der letzten beiden Weltkriege verbunden ist.

Daher haben „Kriegerdenkmale“ eine zwiespältige Sprache und ihre Wahrnehmung ist zutiefst emotional. Aus soziokultureller Sicht wurden solche Denkmäler auch für die Propaganda der Kriegsmotivation instrumentalisiert. Zu diesem Zweck sind leider auch Gedenktafeln für im Krieg gefallene Gemeindemitglieder und in der eigenen Kirche aufgestellte Denkmale missbraucht worden.

Auffällig dabei ist, dass Bibelzitate einfach willkürlich aus ihrem dortigen Zusammenhang gerissen und im heldenhaften Sinne umgedeutet wurden, so als ob der Tod auf dem Kriegsfeld ein gottgewollter Heldentod ist. Aus dem im Krieg getöteten Gemeindemitglied wird ein „gefallener Held“, wobei der alte christliche Gedanke des Märtyrertodes vermischt wird mit dem besonders aus der Antike bekannten und propagierten „Heldentod“. Die ideologisch motivierte Kombination zwischen christlichem Glaubenszeugen (Märtyrer) und antikem Helden wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der christliche Märtyrer als Glaubenszeuge für seine Glaubensüberzeugung getötet wurde und der antike Held als Krieger im Kampf mit einer Waffe gefallen war.

Diese ideologisch motivierte Kombination zwischen „Heldentod“ und christlichem Märtyrertod lässt sich leicht anhand der benutzten Bibeltexte erkennen, die den Gedenktafeln in den Kirchen beigefügt wurden. So wurden biblische Zitate ihrem dortigen Kontext entrissen und in Verbindung mit christlichen Symbolen und Sprüchen wie: „Sie starben für Volk (König) und Vaterland“ gebracht, eine Vorstellung, die auf die Verordnung des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 10. März 1813 zurückgeht, wo es heißt: „Außerdem soll für alle, die auf dem Bette der Ehre starben, in jeder Kirche eine Tafel auf Kosten der Gemeinde errichtet mit der Aufschrift: Aus diesem Kirchspiele verstarben für König und Vaterland.“

Der damalige König konnte sich diese Anweisung leisten, da er als höchstes Kirchenoberhaupt („summus episcopus“) nach dem protestantischen Kirchenrecht galt. Diese Position nutzte er für seine politischen Ziele der Kriegsheldenverehrung in der Kirche. In der Verordnung wurde das Ziel der Verehrung der gefallenen Soldaten so festgelegt, dass darauf geachtet werden musste, im Gottesdienst auf die „Belebung des wahrhaften religiösen Patriotismus, welcher auch das Leben für die Brüder zu lassen bereit ist, freudig hinwirke.“[6] Absichtlich wurde jede Form der Trauer untersagt und ausdrücklich der Heldentod der Soldaten im Stile der antiken Heldenliteratur hervorgehoben, die der biblischen Botschaft geradezu widersprach. So predigte Pfarrer Maximilian Friedrich Scheibler 1816 ganz im Sinne der angeordneten Todesfeier von den „Empfindungen einer glückwünschenden Freude über ihren edlen Heldentod; und Empfindungen einer dankbaren Freude über die uns dadurch errungenen Wohlfarth.“[7] In diesem Predigtstil des „religiösen Patriotismus“ ist kein Platz für Mitgefühl für die trauernden Hinterbliebenen, was in erster Linie die Aufgabe des Pfarrers als Seelsorger gewesen wäre. Hinweise darauf, dass dieser Predigtstil des „religiösen Patriotismus“ auch in unseren Kirchengemeinden nach 1815 propagiert wurde, konnte ich in den vorhandenen Quellen nicht finden.[8] Die preußische Anweisung bezüglich der Gedenktafeln wurde auch für den süddeutschen Raum insoweit übernommen, dass die Erinnerungstafeln als Modell auch hier eingeführt wurden[9] und in dieser Kunsttradition stehen dann auch die Gedenktafeln in unseren Kirchen, die später aufgestellt wurden. ...


Download
Gefallenengedenktafeln in den Kirchen - "religiöser Patriotismus" oder Trauerbewältigung für die Angehörigen
Auszug des Aufsatzes aus dem Buch Merk_mal(e) mit Anmerkungen.
Aufsatz - Auszug Buch Merkmale.pdf
Adobe Acrobat Dokument 816.8 KB